Regensburger Tagebuch

Notizen von der nördlichsten Stadt Italiens

Sonntag, 16. Februar 2020

Nachruf Helmut Nieberle

Es ist eine der unangenehmsten Beiträge, die ich in diesem Blog schreiben musste: der Regensburger Jazz-Gitarrist Helmut Nieberle ist am 9. Februar 2020 gestorben. Dass dieser, für seine rundherum liebenswürdige und freundiche Art beliebte Mensch schon mit 63 Jahren von uns gehen musste, ist sehr traurig.

Helmut Nieberle, "Gipsy-Gitarissimo-Session" am 9. Januar 2013 im Lokanta

Nachrufe gibt es einige zu lesen, in der SZ wie in BR Klassik oder in der Jazz-Zeitung. Denn er hatte mit seinem enormen Fähigkeiten einen europaweiten Ruf erworben. Eine kleine Liste von informativen Beiträgen habe ich zusammengestellt. Ihr findet sie am Ende des Artikels, und dort findet ihr auch nähere Informationen über seine musikalische Laufbahn.

Helmut war Musiklehrer in Regensburg, und zwar seit Anfang der 80er Jahre an der von Richard Wiedamann gegründeten (und später städtischen) Musikschule. Laut Wikipedia war er schon ab 1979 Mitglied der Formation "Rabo Swing Machine" unter Wiedamann, die manche von uns noch in Jazz-Weekends oder bei den Sessions in Wiedamanns Übungskeller erleben durften. Nieberle unterrichtete aber wohl auch am Freien Musikzentrum in München, in Augsburg und anderen Orten.


Bekannt wurde er für seine Fähigkeiten im Umgang mit der siebensaitigen Gitarre (die eine zusätzliche Bass-Saite) hat, und für seine Musik im Bereich Gipsy-Swing (Zigeuner-Jazz), die er vor allem über die Regensburger Formation "Cordes Sauvages" transportierte. Aber er konnte und spielte weit mehr Richtungen, deshalb wäre es falsch, ihn in diese Schublade einzordnen. Und er komponierte und arrangierte viel.


Mein erstes Erlebnis

Das erste mal erlebte ich ihn Anfang der achtziger Jahre. Das Jazz-Weekend war vorbei, der letzte öffentliche Auftritt durch, und ich ging in der Altstadt umher. Ich war zu diesem Zeitupnkt schon Jazz-Fan, hatte zu Hause viele Alben, wusste aber noch nichts von der Regensburger Jazz-Szene. Ich kannte weder Wiedamann, den Gründer des Jazz-Weekends und dem Leiter der Rabo Swing Machine, noch Axel Prashuhn, noch Nieberle oder  die anderen Regensburger Musiker.

Ich landete irgendwann im damaligen Vitus (Altstadtcafe, Hinter der Grieb), wo ein Jazz-Musiker auf einer improvisierten Bühne saß und alleine auf der Gitarre fetzige Jazz-Musik spielte.

Das Lokal war rappelvoll mit stehendem beziehungsweise tanzendem Publikum, und was ich sah und hörte, war für mich schier unfassbar: Helmut saß mit leicht verträumten Gesichtsausdruck da, die Lider halb geschlossen, und im völligen Gegensatz zu diesem fast gleichgültigen Gesicht wirbelten seine Finger auf dem Griffbrett in einem aberwitzigen Tempo auf und ab und erzeugten eine furiose Musik, wie ich sie noch nicht  gehört hatte. Als  Juan Martin Koch in seinem Nachruf den Titel "Der übers Griffbrett tanzt" wählte, hätte er es nicht besser treffen können.

Dass es sich hier um Helmut Nieberle handelte, habe ich erst sehr viel später heraus bekommen, denn der Auftritt war nicht im offiziellen Plan. Ich glaube, ich habe monatelang herumgefragt, bis mir der richtige Name gesagt wurde.

Ab dann verfolgte ich seine Auftritte mit sehr viel Interesse. Über gemeinsame Freunde (z.B. Milorad Romic, Reza Pezeshki) lernte ich ihn auch flüchtig privat kennen, und er war genau so, wie er mit geschildert wurde: absolut uneitel, in der Musikgruppe eher unauffällig und zurückhaltend (gemessen an seinen Fähigkeiten), und privat sehr freundlich und liebenswürdig. Letzteres eine Formulierung, die man in vielen Nachrufen liest, aber ich finde kein besseres Synonym dafür. Es ist das erste Wort, das mir überhaupt für diesen Nachruf einfiel.

Wie man nachlesen kann, kam der in Kaufbeuren geborene Helmut erst 1979/1980 über Richard Wiedamann nach Regensburg, und Richard bot ihm an, bei ihm an der frisch gegründeten Musikschule zu lehren. Über die Jahre hinweg hörte und sah ich ihn dann in folgenden Formationen (oder Alben):

  • Nieberle und Axel Prashuhn (wunderbarer Sänger und Saxophonist): Voice & Strings. 
  • Nieberle und seine langjährige Formation "Cordes Sauvages" (ab Beginn der 80er) mit Schwerpunkt Zigeunerjazz: STEPHAN HOLSTEIN (cl), FERRY BAIERL (git), WOLFGANG KRIENER (b), SCOTTY GOTTWALD (dr) (http://www.helmutnieberle.de/sites/cordes.html)
  • Helmut Nieberle und Helmut Kagerer -  das "Gitarren-Duo" (ab 1986)
  • Nieberle und die Formation "Voice & Strings" - mit Charlie Meimer, Steffi Denk und Hans Yankee Meier
  • Nieberle und Norbert Gabla mit TangoJazzTrio (CD, ob es Auftritte gab, weiß ich nicht)
  • Die CD "Vom Strahlen meiner Augen" mit äußerst interessantem Hintergrund entstand in Zusammenarbeit mit diversen anderen Musikern (Meimer, Denk etc.)
  • Nieberle und  Milorad Romic  - eine denkwürdige musikalische Zusammenarbeit über viele Jahre hinweg (CDs "SoloDue" und gemeinsame Auftritte)

Nieberle und Romic

Die Zusammenarbeit mit Milorad Romic habe ich deshalb als denkwürdig bezeichnet, weil Milorad ein Meister der klassischen Gitarre ist - und im Jazz auch gar nicht experimentiert. Aber wer sich mit Gitarre befasst merkt schnell, dass die Grenze zwischen klassischer Gitarre und ruhiger Jazz-Gitarre sehr fließend ist (eigentlich bin ich früher erst über Sologitarre-Platten auf den Jazz-Geschmack gekommen).

Und so haben die beiden es tatsächlich geschafft, gemeinsame Projekte durch zu ziehen. Wer sucht, findet im Handel die CD "Solo Due 1&2".

Da wurde  keine klassische Musik verjazzt und auch kein Jazz auf Klassik eingespielt, sondern neben klassischen Stücken und Eigenkompositionen ein interessantes Experiment im Grenzbereich veranstaltet. 

Die erste CD "Solo Due" gab es eigentlich schon 1994, kurz nach der Flucht des Musikers Milorad Romic nach Regensburg. Ich sprach diese CD an, als ich Milorad  im Jahre 2015 interviewte. Er erzählte von der langjährigen Zusammenarbeit mit Helmut, und dass er wieder auf ihn zugehen wollte wegen neuer Projekte. Und tatsächlich: schon ein Jahr später ein gemeinsamer Auftritt und im Jahre 2017 die Platte "Solo Due 1 & 2" mit alten Einspielungen (also einer Neuauflage der CD 1994) und neuen Einspielungen. Auf amazon finde ich nur noch diese CD, die alte scheint nicht mehr erhältlich zu sein.



Über den gemeinsamen Auftritt und die Musik habe ich im Jahre 2016 einen eigenen Artikel geschrieben: 

Wenn Gitarrenwelten aufeinanderprallen - Nieberle und Romic am 13.03.2016

Und in der Jazz-Zeitung gibt es einen eigenen Artikel über die Neueinspielung im Jahre 2017 "Solo Due 1 und 2": https://www.jazzzeitung.de/cms/2017/09/helmut-nieberle-und-milorad-romic-gitarren-duo-mit-anarchischer-note/

Die Geschichte vom Jäzzkäppi

Natürlich gab es noch viele andere Kooperationen und Auftritte mit international bekannten Jazzmusikern, die ich nicht so verfolgt habe, die man aber auf Wikipedia nachlesen kann. Aber nicht alle Projekte sind dort erwähnt. So fand ich in meinem eigenen Tagebuch einen Veranstaltungshinweis aus dem Jahre 2016, an den ich mich noch erinnere, weil ich die Idee so originell fand:

Erzählkonzert für Kinder - die Geschichte vom Jäzzkäppi
https://www.regensburger-tagebuch.de/2016/10/erzahlkonzert-fur-kinder-die-geschichte.html

 „Die Geschichte vom Jazzkäppi“  ist ein Erzählkonzert von Helmut Nieberle und Gabriele Marchl. Es ist gedacht für Kinder ab 8 Jahren.  Premiere hatte diese "Geschichte vom Jazzkäppi" 2015 im dreimal ausverkauften Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. 

Dargeboten wurde damals dieses Musikmärchen von Musikern der Berliner Philharmoniker und Helmut Nieberle (Gitarre, Komposition, Arrangement): Martin Stegner (Viola), Manfred Preis (Klarinette) Raphael Haeger (Klavier), Esko Laine (Kontrabass)  sowie dem Erzähler Thomas Wittmann (Berliner Ensemble).

Die zur Geschichte gehörige Musik hat Helmut Nieberle eigens für die kleinen großen Musiker/innen immer arrangiert, oft auch komponiert.

Das in meinen Artikel integrierte youtube-Video ist übrigens immer noch online.


Komposition und Arrangieren

Helmut Nieberle wollte nicht einfach "nur Jazz-Gitarre spielen", das wäre ihm zu langweilig gewesen. So komponierte er auch und arrangierte. Und in der Königsdisziplin des Arrangierens entdeckte er Talent und Leidenschaft - und wurde bekannt. Offenbar hatte er ein Gespür dafür, wie man Songs einer bestimmten Besetzung "auf den Leib schneidert", wie in einem Artikel der Jazz-Zeitung berichtet wird. Und vorrangig wurde er mit dem Projekt "Bolero Berlin" bekannt, wie ich anlässlich meiner Recherche im nachhinein erfuhr.

Bolero Berlin  ist eine Gruppe aus den Reihen der Berliner Philharmoniker, die sich zusammen setzten, um kubanische Boleros, argentinische Tangos und  Klassiker im neuen Gewand zu spielen. Helmut Nieberle verband sich mit diesen Musikern und arrangierte für sie und spielte mit ihnen.

Auf der Webseite von Bolero Berlin (www.bolero-berlin.de) erhielt er jetzt eine eigene Unterseite, und ich erlaube mir daraus zu zitieren:

"... Mit Dir zu spielen war ein Traum: Welch ein unprätentziöeses und einfühlsames Gitarrenspiel ... Deine Arrangements und Kompositionen bilden den Grundstock für das Repertoire und sind unglaublich ideenreich."
Und eine weitere Stelle passt gut zum Abschluss dieses Nachrufs: 
"Du warst kein lauter Mensch; so wie Deine Kompositionen, welche fast ein Spiegel Deiner Persönlichkeit sind: warm, entspannt, mit einem Hauch von Melancholie und immer gibt es eine kleine Passage mit einem kleinen Lächeln" (Quelle: http://www.bolero-berlin.de/Helmut.html)


Lesetipps (aktuell):
Videos:
Vor dem Tod erschienene Artikel:

Auswahl von Artikel im Regensburger Tagebuch



Beachte: 

Den Artikel mit Fotos von der "Gipsy Gitarissiomo Session" im Lokanta vom 9.1.2013 habe ich heute erst erstellt und rückdatiert veröffentlicht. Ich habe nämlich gemerkt, dass ich die Fotos zwar in ein Picasa-Bilderalbum hochgeladen hatte (heute "google-Fotos"), aber wie so viele Bilder noch nie im Tagebuch gezeigt habe. Was denn dann doch schade ist. Dort sieht man Nieberle mit anderen Musikern und Charlie Meimer als Sänger in einer abendfüllenden Jam-Session.
Aus: Bilder von der Gipsy Gitarissimo Session im Lokanta 9.1.2013 (regensburger tagebuch)

Die allerersten Fotos von Helmut Nieberle  habe ich übrigens in einer Jazz-Session im Diba-Kult im Jahre 2009 geschossen. Auch diese Bilder habe ich erst Jahre später, im Jahre 2016, veröffentlicht, und zwar im Rahmen einer Artikelserie über das "Diba-Kult-und-Büro".


https://www.regensburger-tagebuch.de/2016/03/memories-jazz-sessions-im-diba-kult-in.html