Regensburger Tagebuch

Notizen von der nördlichsten Stadt Italiens

Dienstag, 13. August 2024

Rundherum fantastisch - die Papierkunst-Triennale 2024

Es ist für uns Regensburger  ein Ausflug von nur 50 Minuten. Ein Ausflug, der sich für mich lohnte, als ich im Juli die die Papierkunstausstellung "Papier Global 6" besuchte, die ich kurz vorher beworben hatte. 

Um es vorweg zusammen zu fassen: ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, und war restlos begeistert. 





Deggendorfer Stadtmuseum (links) und Handwerksmuseum (rechts)



Die alle drei Jahre stattfindende Papierkunst-Ausstellung in Deggendorf ist die sechste und heißt demgemäß "Papier Global Paper 6". 

Ingesamt 49 Künstler aus 20 Ländern durften ihre Kunst zeigen, eine Auswahl der Jury aus Einreichungen von 530 Künstlern. Das zeigt, wie sehr die Triennale international bekannt und begehrt ist, und es ist klar, dass bei diesen Zahlen wirklich nur hochkarätige Kunst zu sehen ist

Ich war Mitte Juli dort. Für lächerliche 4 Euro Eintritt (ermäßigt 2 Euro) kann man nicht nur die drei Stockwerke des Stadtmuseums und des gegenüberliegenden Handwerksmuseums ansehen, sondern auch die Papierkunstausstellung. Diese allein diese Ausstellung umfasst insgesamt 400 qm Ausstellungsfläche, verteilt auf viele Räume im EG des Stadtmuseums und einen Raum im Handwerksmuseums. Ich hätte eigentlich mehr als die eineinhalb Stunden benötigt, die ich noch Zeit bis zur Schließung hatte

Es ist erstaunlich, was man mit Papier machen kann, wenn man es faltet, schleift, verwebt, näht, und mit seltenen Materialen experimentiert.  Und das hat schon lange nichts mehr mit Papp-Machee oder Origami zu tun, sondern bewegt sich an anderen künstlerischen Bereichen. 

Die Ergebnisse sind für sich schon faszinierend, und ich war nicht der einzige Besucher, dem bewundernde Ausrufe entfuhren. 

Und wenn man die verwendete Technik unter dem Werktitel liest, wird es noch unglaublicher. Da stehen dann solche Sachen wie "Lauchfaser als pflanzlicher Material, natürlicher Farbstoff aus Kohl, Bleichen der Faser mit Zitronensaft, handgeschöpftes Papier". Das ergab übrigens eine schöne Komposition von  zwei Halbkreisen mit schöner Struktur und erdigen Farben. 

Da gab es weiter das Werk "Papersheet", zwei (oder drei?) gerahmte handgeschöpfte
Papiere mit rauher Oberfläche und farbigen Sprenkeln - sie erinnerten mich entfernt an alte Löschpapiere. Die Beschreibung unter dem Titel macht neugierig: "Handgeschöpftes Papier aus privatem Arbeitsplatz, Schreibtisch, Stuhl, Papier, Stifte, Ordner, Schneidematte, Lineal, Tesaroller". 

Ja wirklich, das stimmte. Ich las nämlich später den Ausstellungskatalog, und weiß jetzt: der Künstler hat die ganzen Utensilien (inklusive Schreibtisch und Stuhl) mit Axt und Häcksler zerkleinert, im Mixer zu Brei püriert und danach zu Papier geschöpft.

Eine andere Künstlerin, Christiane Dreyer, hatte sich mit ihren gewebten Papieren in der Szene bekannt gemacht. Am Hochwebstuhl verwebte sie Wellpappe und Baumwolle und bildete eine 64x99 cm große und 3 cm dicke Fläche mit zum Teil schwingenden, zum Teil parallelen Linien und passenden Farben. Man kann fast meditieren bei diesem Anblick dieses Werks, das sie übrigens "Stille II" nannte. 

Die Künstlerin ist erst vor ein paar Monaten verstorben, im Mai 2024, mit 80 Jahren. Das war im Katalog natürlich noch nicht berücksichtigt. Sie war wohl mit ihrer speziellen Technik sehr bekannt. Ich habe entsprechende Links herausgesucht und am Ende des Blogartikels eingearbeitet.

Da war dann auf einem Tisch ein Werk, das uns Besucher sofort begeistert hat: "Carry-on" eine wunderschön gearbeitete und in allen Details faszinierende große Tasche, die aus bedruckten Papierteilen gebildet wurde, Schwarzweiß, aber mit markanten farbigen Schnüren. "Papier, Fotos, Tinte, Faden Passepartoutkarton, Ösen; gewebt, geflochten, geklebt, genäht"" heißt es bei der Angabe zur Technik. 

Später las ich im Ausstellungskatalog, dass die Künstlerin Ilka Bauer Nachdrucke von eigenen und fremden Fachartikeln  rund um ihre Doktorarbeit verwendete, sie zerschnitt und zusammenfügte. Die Doktorarbeit hatte sie damals nach Kanada geführt. Die farbigen Schnüre stellten sich als geflochtene Fotografien heraus, die ihr Leben davor darstellte. Die Idee ist, dass "wir unsere Vergangenheit in uns tragen, egal wohin oder wie weit wir gehen"

Und so wurde das ungläubige Lächeln in meinem Gesicht langsam zum Dauerzustand, als ich von Werk zu Werk ging. 

Ein schier unglaubliches Ergebnis ergibt sich, wenn man Kartons aus Supermarktabfällen zusammengefügt und zuschleift. "W-Objekt I" heißt die halbierte papierende Amphore, ca 120 cm hoch, an der Wand hängend. Das Werk begeistert mit herrlichen Mustern, Strukturen, Details und vor allem den  Farbelementen begeistert. Das muss man sehen - ich kann es nicht beschreiben. Auch das Foto im Katalog kann nicht ansatzweise den Original-Eindruck vermitteln.

Dann ist da noch "Pajak 3", eine von der Decke hängende Installation von vielen kleinen kegelförmigen Elementen, die jede für sich schon herrliche kleine Kunstwerke waren und auf mich irgendwie japanisch wirken (obwohl sie letztlich polnische Vorbilder haben).  

"Papier Weide, Eisendraht, Acrylfarbe, Bienenwachs, aufgerollt" heißt es zur Technik. Jede der unzähligen kleinen Kegel ist für sich schon faszinierend und das Ganze muss einen enormen Zeitaufwand gekostet haben.

Der Katalog verrät noch mehr über die Herstellung: aus dem mit Text bedruckten Papier wurden (kegelförmige) Pfeile gerollt, die Kegelspitzen werden in Bienenwachs getaucht und auf Eisendraht aufgefädelt. Die Stränge sind u Kränze aus Weidengeflecht gewickelt. Die Kränze hängen an Papierschnüren; an ihnen sind Papierstrohhalme aufgefädelt. Das Werk sei von traditionellen polnischen Objekten inspiriert, die früher zum Schutz vor Unheil aufgehängt wurden. Künstlerin: Anna van Bohemen aus den Niederlanden.

Dann gibt es eine Figurengruppe namens "Tanzende", von Christian Born. Aus zerknülltem Katalogpapier, das punktuell zusammengeklebt wurde, bildete der Künstler eine Gruppe von fünf lebensgroßen (110-170 cm hohen) Figuren, die zu tanzen scheinen. 


Eine wunderschöne filigrane Arbeit heißt "Brutstätten". Ein zartgrün und ockerfarbiges Gebilde, das bewusst an Laichschnüre erinnern soll, oder an  Insektenkokons. Das Ganze entstand aus transparenten Papier, das zusätzlich bemalt wurde, zusammen geklebt.

Verwandlung oder Prekäre Lage, heißt ein Werk von Alexandra Fromm. Ein 30x40 cm großer, auf dem Rücken liegender Käfer mit kleinem menschlichen Kopf, der verwundert und hilflos dem Besucher entgegen blickt. Angeregt von Kafkas Verwandlung geht es um ein Individuum, das alles für lösbar hielt und alles im Griff zu haben glaubte, aber während der Metamorphose eine Ahnung von den eigenen Grenzen bekommt.


Forgiviness Project", von Loretta Faveri 



Ein Werk, an dem man nicht so einfach vorbeigehen sollte: Forgiviness Project", von Loretta Faveri aus Kanada.  Technikbeschreibung: "Handgeschöpftes Papier, Tinte, Bienenwachs, Faden, transkribierte Briefe auf handgeschöpften Papier, zerissen und mit der Maschine genäht"

Das ergab eine Textschnipselcollage, die 10 cm von der Wand entfernt hängt. Sie wird so angestrahlt, dass an der Wand  die holzschnittartigen Züge eines Gesichts sichtbar werden. Wobei mir der Schattenwurf erst im zweiten Moment bewusst wurde, denn die hängende Collage ist für sich alleine schon faszinierend.

Aber die beschrifteten Papierschnipsel sind nicht einfach irgendwelche. Die kanadische Künstlerin beschäftigt sich nämlich mit dem Schicksal ihres Großvaters, der im zweiten Weltkrieg verhaftet und in ein Lager in Kanada als Staatsfeind angeklagt worden war (er war ein Italo-Kanadier). Die Großmutter hatte viele Briefe an die Regierung geschrieben, um sich für die Freilassung einzusetzen. Die Künstlerin hat nun diese Briefe auf geschöpftes Papier übertragen, das eine Tante (also eine Tochter der Grußmutter)  angefertigt hatte, und sie als Akt der Vergebung und des Loslassens der Vergangenheit in Fetzen zerrissen und wieder zusammengenäht. Und zwar so, dass sich die Konturen eines Gesichts ergeben.

Es gibt noch Dutzende weitere Werke. Ein paar sind im großen Ausstellungsraum gegenüber dem Stadtmuseum, im Handwerksmuseum, ausgestellt. Stadtmuseum und Handwerksmuseum gehören zusammen, heben Sie also das Eintrittsbillet auf.

Ein Rasenstück vor dem Handwerksmuseum ist übrigens bewusst ungemäht. Hier lagen vor einigen Wochen noch aus Papier hergestellte Blüten herum. Eine Open-Air-Installation von Pia Höhfeld mit dem Titel "blühende Rechnungen": handgeschöpftes Papier aus geschredderten Rechnungen wurden mit Wildblumen-Samen versetzt und mit Pflanzenfarben gefärbt. 

Aus diesem originellen Papier-Samen-Material wurden 60 rote farbige Blüten erstellt und auf der Rasenfläche vor Handwerksmuseum ausgelegt. Nach 2-3 Monaten sollten sie verschwinden bzw. zerfallen (was sie zum Zeitpunkt meines Besuchs wohl schon waren) und im Frühjahr 25 werden dort Wildblumen wachsen



Das "Kulturviertel"

Wer das Museum sucht, stößt wiederholt auf den Begriff "Kulturviertel". Das so genannte Kulturviertel befindet sich an der Kreuzung "Östlicher Stadtgraben" und "Rosengasse". Auf die Eröffnung eines neuen Stadtmuseums 1984 folgte der Neubau der Stadtbibliothek 1989, der Umbau der Kapuzinerkirche zum Kapuzinerstadl 1990 und schließlich die Eröffnung des neugegründeten Handwerksmuseums, das dem Stadtmuseum diagonal gegenüber liegt. Mit dem Handwerksmuseum im Jahre 1991 konnte dann das "Kulturviertel" eingeweiht werden. 



Handwerksmuseum, im Hintergrund der Kapuzinerstadl




3d-Tour zur letzten Ausstellung

Wer ein kleines Gefühl dafür bekommen will, wie Papierkunst in der Triennale aussehen kann: hier ist der Link zu einer 3d-Tour durch die letzte Ausstellung (Global Paper 5, vor 3 Jahren): https://vr-easy.com/tour/museendeggendorf/220315-papierglobal5_ordner/#pano=11

Den kompletten Flyer zur aktuellen Ausstellung findet man hier


Papier Global Paper 12.05. - 06.10.2024



Künstler-Webseiten (nicht vollständig)

Die Ausstellung hat mich inspiriert, die Webseiten der Künstler anzusehen, um mehr zu erfahren. Hier einige Links, die ich zu den Künstlern herausgesucht habe:

Helmut Frerick: Lichtobjekte aus pflanzlichem Pergament. 

Ilka Bauer: Titel "Carry-On" Handtasche, 

Anna van Bohemen 
Installation: "Pajak 3" (Papier, Weide, Eisendraht, Acrylfarbe, Bienenwachs, aufgerollt)

Roswitha Berger-Gentsch, W-Objekt I (Amphore), 
Anna Bludau-Hary, 

Dongsam Park, Südkorea, 

Christian Born, Design-Student aus Krefeld, "Tanzende" (lebensgroß, aus zerknülltem Katalogpapier) https://www.instagram.com/knoten.lager/?locale=de-DE

Angelika Brackrock,  Brutstätten

Helen Efe Doghor-Hötter 
https://efedoghor.de/


Christiane Deryer (mit 80 Jahren im Mai 2024 verstorben), Stille II (am Hochwebstuhl entstanden, Wellpappe, Baumolle gewebt (Nachruf: https://www.nordkurier.de/regional/mecklenburg-vorpommern/nachruf-auf-christiane-dreyer-ihr-lebensfaden-ist-zu-ende-gewebt-2547216)

Loretta Faveri, Kanada, 
Titel: „Forgiveness Project Internment“ (2023, Tinte, Bienenwachs, Faden, transkribierte Briefe auf handgeschöpftem Papier, zerrissen und mit der Maschine genäht),

 in dem die Kanadierin Loretta Faveri, Jahrgang 1962, das Schicksal ihres in Kanada internierten Großvaters verarbeitet; es entsteht eine Art Scherenschnitt-Portrait, das den Schatten eines Gesichts auf die Wand dahinter wirft.

Heiko Elias Friedrich, "Hunger" (Netzteil)

Alexandra Fromm, 2 Werke; u.a. Verwandlung (Aquarellkarton, Holzsockel, Acryl, Papier geleimt auf Drahtgerüst, bemalt, lackiert) 

Marianne Goldbach, Papierobjekt III 

Anja-Katrin Grimm, Kokav I und II (Zeitungspapier, Pulpe, Tusche, Acryl, Wandobjekt) https://www.anja-grimm.de/werkschau/

Bastian Hoffmann, Papersheet, Handgeschöpftes Papier aus privatem Arbeitsplatz, Schreibtisch, Stuhl, Papier, Stifte, Ordner, Schneidematte, Lineal, Tesaroller 
(Menü ist farblich versteckt im oberen, dunklen Bereich der Webseite)


Kaori Kato, Japan: https://kaorikato.com/biography/

SUYOUNG KIM 
https://visavis-eresing.de/about/


Wolfgang Kowar,  Hommage a Rodtschenko/Newmann (beschliffene Papierschichten,) 
https://wolfgangkowar.de/,


Tina Kraus, "Ocean Cuttlefisch" und "Ghost Mantises"
https://www.faltmanufaktur.com/


Helene Lacquement 
https://helenelacquement.com/


Drew Matott (USA/Deutschland) 
Frank Nordiek, Topografisches Relief von 5 Stöcken
https://landart.de/

Christine Ott, München, http://www.christine-ott.eu/ (Fotos sind nichtssagend)


Karen Perry aus Mexiko, "Aurum" 
https://www.karenperryrioja.com/


Kirstin Rabe, "Rauschen" (Baumwollzellstoff, Pigmente, gegossen, geschnitten, geklebt) https://www.kirstinrabe.de/


Uli Schmid, Landshut, "Herkunft" (Installation mit gefüllten Ordnerm), 
https://www.uli-schmid-la.de/


May-Lucy Suess, Schweiz, 
http://www.tomikawa.de/


Helene Tschacher, Dtld., 
http://www.helene.tschacher.de/


Michael Velliquette, USA, 
https://www.velliquette.com/


Jen Weissenbacher, Gorilla, 
https://www.instagram.com/rebelsonice/


Xiaoxue Xu, Österreich: "Omas Fenster"